Rechtsanwalt Lucas Prandi hat eine Arbeitsgemeinschaft von Rettungsdiensten der kreisfreien Stadt Jena erfolgreich in einem sofortigen Beschwerdeverfahren vor dem Thüringer Oberlandesgericht gegen eine Entscheidung der Vergabekammer Thüringen vertreten.
Die Arbeitsgemeinschaft als Leistungserbringer, bestehend aus gemeinnützigen anerkannten Hilfsorganisationen und einem gemeinnützigen privatwirtschaftlichen Unternehmen, die zugleich Bestandsdienstleister der kreisfreien Stadt Jena seit 2003 und 2010 sind, erhielt im April 2022 den Auftrag für die Erbringung weiterer rettungsdienstlicher Leistungen im Rettungsdienstbereich der kreisfreien Stadt (hier zur Pressemitteilung: https://rathaus.jena.de/de/drei-neue-rettungsfahrzeuge-im-einsatz). Der Auftrag war auf eine Laufzeit von sechs Monaten begrenzt, um die Wirksamkeit der sog. Vorhalteerhöhung evaluieren zu können. Eben diese kurze Laufzeit des Auftrages war Anlass dafür, dass sich die Bestandsdienstleister zu einer Arbeitsgemeinschaft als Gesellschaft bürgerlichen Rechts zusammenschlossen, um die Vorhalteerhöhung gemeinsam für die kreisfreie Stadt Jena erbringen zu können.
Die kreisfreie Stadt Jena ermittelte hierzu im Vorfeld den konkreten Bedarf an der Vorhaltung weiterer Rettungsmittel, um eine flächendeckende und bedarfsgerechte Versorgung der Bevölkerung mit rettungsdienstlichen Leistungen sicherstellen zu können. Zu einer flächendeckenden und bedarfsgerechten Versorgung mit rettungsdienstlichen Leistungen gehört auch, dass alarmierte Rettungsmittel innerhalb einer vorgeschriebenen Hilfsfrist am Einsatzort eintreffen können. Die Gewährleistung der landesrechtlichen Vorgaben war aus diversen Gründen nicht mehr ohne die Überlastung der Bestandsdienstleister sichergestellt. Im Zuge der Ermittlung des zusätzlichen Bedarfs an Rettungsmitteln sollte unter anderem auch untersucht werden, ob eine Zusammenarbeit mit einem Nachbarlandkreis möglich ist. Die Rettungsdienstorganisation der beiden Rettungsdienstbereiche sollte durch ein Gutachten untersucht und daraus resultierende mögliche Maßnahmen abgeleitet werden.
Gegen die Entscheidung der Stadt Jena wandte sich ein bundesweit tätiges Unternehmen und beantragte die Nachprüfung bei der Vergabekammer Thüringen. Hierbei handelt es sich um ein für Vergabeverfahren, die einen bestimmten Auftrags- oder Vertragswert überschreiten, europarechtlich vorgeschriebenes Rechtsschutzverfahren, das es Bietern und Bewerbern, die bei der Auftragserteilung nicht berücksichtigt worden, ermöglichen soll, das Verfahren bis zur Zuschlagserteilung in einem behördlichen Verfahren überprüfen zu lassen.
Das bundesweit tätige Unternehmen nutzte diese Möglichkeit und beantragte im August 2022 neben der Einleitung eines solchen Nachprüfungsverfahrens die Feststellung, dass der Vertrag zwischen der kreisfreien Stadt Jena und der Arbeitsgemeinschaft für unwirksam erklärt wird, weil es sich um eine vermeintlich unzulässige sog. „De-facto-Vergabe“ handele sowie die Verpflichtung der Stadt Jena bei fortbestehender Beschaffungsabsicht ein europarechtskonformes Vergabeverfahren durchzuführen.
VK Thüringen: Unwirksamkeit des Vertrages & Ausschreibungspflicht
Mit Beschluss vom 19.01.2024 (Az. 5090-250-4003/401) erklärte die Vergabekammer Thüringen sich für sachlich zuständig und entschied, dass der von dem Antragsteller beanstandete Vertrag von Anfang an nichtig sei und dass die Stadt Jena bei fortbestehender Beschaffungsabsicht verpflichtet sei, ein europarechtskonformes Vergabeverfahren durchzuführen. Darüber hinaus führte die Vergabekammer Thüringen aus, dass die Stadt als Aufgabenträger verpflichtet sei, die Bestandsverträge der Gesellschafter der Arbeitsgemeinschaft aus 2003 und 2010 zu kündigen.
Im Wesentlichen vertrat die Vergabekammer die Ansicht, dass es sich bei dem vergebenen Auftrag an die Arbeitsgemeinschaft um eine Dienstleistungskonzession (§ 105 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 2 GWB) gehandelt habe, die den zu diesem Zeitpunkt gültigen Schwellenwert von 5.382.000 EUR netto überschritten habe, weil der konkrete Auftrag nicht befristet gewesen sei und dass es sich im Übrigen bei dem konkret angegriffenen Auftrag um Auftragsänderungen nach § 132 Abs. 1 GWB gehandelt habe, die der Durchführung eines neuen, europaweit bekanntzumachenden Vergabeverfahrens bedurft hätte. Das Vorliegen von Auftragsänderungen leitete die Vergabekammer daraus ab, dass sich das Budget des Rettungsdienstes regelmäßig erhöht habe und die Arbeitsgemeinschaft als neuer Auftragnehmer den Bestandsverträgen beigetreten sei. Da die Durchführung eines solchen neuen Vergabeverfahrens unter Einhaltung der vergaberechtlichen Transparenzvorschriften nicht erfolgt sei, handele es sich bei der Vergabe der Dienstleistungskonzession um eine unzulässige De-facto-Vergabe, sodass der Vertrag von Anfang an nichtig sei (§ 135 Abs. 1 Nr. 1 GWB). Ohne dass die Vergabekammer dazu befugt gewesen wäre, hierüber zu entscheiden, führte sie weiter aus, dass die Stadt Jena zudem verpflichtet sei, die Bestandsverträge der Bestandsdienstleister zu kündigen. Diese „Kündigungspflicht“ vermochte die Vergabekammer aus § 133 GWB erkannt zu haben. Die Vergabekammer stelle zudem kurz und knapp fest, dass eine sich aus den europäischen Vergaberichtlinien ausdrücklich ergebende und in das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) übernommene Bereichsausnahme - § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB –für Rettungsdienste im Bundesland Thüringen insgesamt nicht anwendbar sei. Die Vergabekammer begründete dies im Wesentlichen damit, dass die Anwendung der Bereichsausnahme aufgrund der landesrechtlichen Vorschriften des Thüringer Rettungsdienstgesetzes zur Übertragung von Aufgaben des Rettungsdienstes auf Dritte ausgeschlossen sei, weil in diesen weder eine ausschließliche noch eine privilegierende Vergabe von rettungsdienstlichen Leistungen an gemeinnützige Organisationen vorgeschrieben sei.
Die Entscheidung der Vergabekammer erwies sich damit als brisant für die gesamte Rettungsdienstorganisation in Thüringen. Die Vergabekammer setzte sich mit ihrer Entscheidung zur Nichtanwendbarkeit der Bereichsausnahme für den Rettungsdienst in Widerspruch zu einer zu diesem Zeitpunkt bereits gefestigten, gegenteiligen Auffassung vieler Oberlandesgerichte und Oberverwaltungsgerichte.
Die Arbeitsgemeinschaft wandte sich als Beigeladene vor der Vergabekammer gegen den Beschluss derselben und legte, vertreten durch unseren Kollegen Rechtsanwalt Lucas Prandi, sofortige Beschwerde gegen die Entscheidung zum Vergabesenat des Oberlandesgerichts Thüringen in Jena ein. Mit Erfolg!
Thüringer Oberlandesgericht: Unzulässigkeit des Rechtswegs & Anwendbarkeit der Bereichsausnahme
Das Thüringer Oberlandesgericht hat mit Beschluss vom 12.06.2024 (Verg 1/24) auf die sofortige Beschwerde der von unserem Kollegen Rechtsanwalt Lucas Prandi vertretenen Arbeitsgemeinschaft und der sofortigen Beschwerde der Stadt Jena den Beschluss der Vergabekammer aufgehoben.
Die sofortigen Beschwerden der Arbeitsgemeinschaft und der Stadt Jena waren zulässig und begründet. Das Oberlandesgericht stellte fest, dass der Nachprüfungsantrag des bundesweit tätigen Unternehmens unzulässig war, weil der Rechtsweg zu den Vergabenachprüfungsinstanzen (§§ 155 ff. GWB) nicht eröffnet war, weil der hierfür erforderliche Schwellenwert der vergebenden Dienstleistungskonzession nicht erreicht wurde und die Bereichsausnahme des § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB einreicht.
Das Oberlandesgericht folgte damit den wesentlichen unzureichend begründeten Auffassungen der Vergabekammer nicht und hob die Entscheidung damit folgerichtig vollumfänglich auf.
Im Detail: Schwellenwert korrekt berechnet und nicht erreicht
Die Einleitung eines Nachprüfungsverfahrens vor den Vergabekammern der Länder (oder des Bundes) erfordert, dass das sog. Kartellvergaberecht nach den Vorschriften des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) anwendbar ist. Der sachliche Anwendungsbereich ist hierbei jedoch nur eröffnet, wenn ein öffentlicher Auftrag eines öffentlichen Auftraggebers vorliegt, dessen Auftrags- oder Vertragswert den nach § 106 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 GWB erforderlichen Schwellenwert erreicht. Dieser Schwellenwert wird für die verschiedenen Auftragsarten regelmäßig durch die Europäische Kommission europaweit festgelegt und durch delegierte Verordnungen der Europäischen Kommission im Europäischen Amtsblatt veröffentlicht. Für Dienstleistungskonzessionen betrug der Schwellenwert zum Zeitpunkt der Auftragserteilung 5.382.000,- EUR netto.
Der öffentliche Auftraggeber ist dabei sowohl im Rahmen der Vergabe von Dienstleistungsaufträgen als auch Dienstleistungskonzessionen verpflichtet, im Vorfeld eine sog. Auftrags- oder Vertragswertschätzung vorzunehmen, um feststellen zu können, ob er die strengen formalen Vorgaben des Kartellvergaberechts anwenden muss. Bei der Auftrags- oder Vertragswertschätzung ist vom voraussichtlichen Gesamtwert der vorgesehenen Leistung ohne Umsatzsteuer auszugehen, wobei etwaige Optionen und Vertragsverlängerungen zu berücksichtigten sind (§ § 3 Abs. 1 VgV/§ 2 Abs. 1 KonzVgV). Dabei darf der Auftraggeber keine Methode zur Berechnung der Auftrags- oder Vertragswertschätzung in der Absicht wählen, die Anwendung des Kartellvergaberechts zu umgehen (§ 3 Abs. 2 S. 1 VgV/§ 2 Abs. 2 KonzVgV). Maßgeblicher Zeitpunkt für die Schätzung des Auftrags- oder Vertragswertes ist der Zeitpunkt der Absendung der Auftragsbekanntmachung, oder wenn eine solche nicht erfolgt – wie vorliegend zulässigerweise -, der Zeitpunkt in der das Vergabeverfahren auf sonstige Weise eingeleitet wird.
Das bundesweit tätige Unternehmen warf der Stadt Jena und der Arbeitsgemeinschaft ein kollusives Zusammenwirken dahingehend vor, dass man nie beabsichtigt habe, den Auftrag nur sechs Monate durchzuführen, sondern dass der Auftrag auf unbestimmte Zeit laufen solle. Der dem Auftrag zugrundeliegende öffentlich-rechtliche Vertrag sei nicht befristet, sodass allein aus diesem Umstand eine Überschreitung des Schwellenwertes folge. Die Vergabekammer schloss sich der Auffassung des Antragstellers an und legte dar, dass jeglicher Vortrag der Stadt Jena bloße Schutzbehauptungen oder Fiktionen sei. Die Stadt Jena habe den Vertragswert nicht nüchtern und seriös geschätzt, sondern willkürlich die Anwendung des Vergaberechts absichtlich umgehende Aufteilung des Auftrages vorgenommen.
Das Thüringer Oberlandesgericht sah dies richtigerweise anders. Es stellte in den Entscheidungsgründen ausdrücklich fest, dass ein missbräuchliches Verhalten weder der Stadt Jena noch der Arbeitsgemeinschaft erkennbar ist. Für den Vergabesenat stand aufgrund des Vortrages im sofortigen Beschwerdeverfahren der Beigeladenen und der Stadt Jena außer Frage, dass es sich bei der konkreten Vorhalteerhöhung um eine eigenständige, die Bestandverträge nicht ändernde Maßnahme handelt, die nach übereinstimmender Auffassung der Arbeitsgemeinschaft und der Stadt Jena im Zeitpunkt der Auftragserteilung tatsächlich nur befristet sein sollte. In Thüringen sind die Kosten des Rettungsdienstes aufgrund einer sogenannten Kosten-Leistungs-Nachweis-Berechnung (KLN-Berechnung) zu bestimmen. Die hierzu durchgeführte Berechnung ergab für ein halbes Jahre einen Vertragswert von 365.000,00 EUR. Ausgehend von diesem Vertragswert sah es der Vergabesenat als gegeben an, dass der maßgebliche Schwellenwert nicht erreicht ist. Der Senat beanstandete die Berechnung und die damit verbundene Schätzung des Vertragswertes nicht.
Der Vergabesenat vermochte richtigerweise auch – anders als die Vergabekammer und das bundesweit tätige Unternehmen – kein missbräuchliches Verhalten darin zu erkennen, dass die ursprüngliche geplante Vertragslaufzeit von sechs Monaten im Zeitpunkt der Entscheidung der Vergabekammer und des Oberlandesgerichts abgelaufen ist und die Leistungen dennoch weiter ausgeführt werden. Hintergrund dieser Fortsetzung der Leistungserbringung ist, dass das von der Stadt Jena und dem Nachbarlandkreis beauftragte Gutachten zur Evaluierung der Rettungsdienstorganisation entgegen den ursprünglichen Planungen erst deutlich verspätet fertiggestellt wurde, sodass die konkrete Vorhalteerhöhung noch nicht evaluiert werden konnte. Das entsprechende Gutachten konnte in der mündlichen Verhandlung vorgelegt werden, sodass der Vergabesenat zu der Überzeugung gelangte, dass es sich – entgegen der Ansicht der Vergabekammer – nicht um eine unbefristete Beauftragung handelte.
Bereichsausnahme in Thüringen anwendbar
Soweit die Vergabekammer der Auffassung gewesen ist, dass das Thüringer Rettungsdienstgesetz die Anwendung des § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB sperre, wurde dies durch den Vergabesenat revidiert und festgestellt, dass die Auffassung rechtlich unzutreffend ist.
Bei § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB handelt es sich um eine sog. Bereichsausnahme. Liegen die Voraussetzungen, die aufgrund des Ausnahmecharakters eng auszulegen sind, vor, ist das Kartellvergaberecht nicht anwendbar, sodass unter anderem auch der Rechtsweg zu den Vergabenachprüfungsinstanzen verwehrt ist. Die Bereichsausnahme nach § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB ist seit mehreren Jahren Gegenstand zahlreicher vergabe- und verwaltungsrechtlicher Verfahren, in denen die Vereinbarkeit der Norm mit dem Europarecht und dem Grundgesetz in Zweifel gezogen wird. Die herrschende Rechtsprechung der Oberlandes- und Oberverwaltungsgerichte hält die Norm für unionrechts- und grundrechtskonform, so nun auch ausdrücklich das Thüringer Oberlandesgericht. Es verweist hierzu richtigerweise auf die ausführlichen zuletzt ergangenen Entscheidungen des Oberlandesgerichts Düsseldorf (Beschluss vom 22.03.2023 – Verg 28/22) und des Oberlandesgerichts Hamburg (Beschluss vom 16.04.2020 – 1 Verg 2/20). Der Vergabesenat des Thüringer Oberlandesgerichts hat sich richtigerweise diesen Entscheidungen vollumfänglich angeschlossen, sodass nunmehr in nahezu allen Bundesländern die Anwendbarkeit der Bereichsausnahme festgestellt ist.
Der Vergabesenat hat dabei deutlich ausgeführt, dass das Thüringer Rettungsdienstgesetz der Anwendung der Bereichsausnahme offensichtlich nicht entgegensteht. Durch den Verweis auf die Entscheidung des Oberlandesgerichts Düsseldorf wird auch deutlich, dass der Vergabesenat die Vergabekammer daran erinnert, dass das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen als Bundesrecht das Thüringer Rettungsdienstgesetz als Landesrecht bricht. Hierbei handelt es sich um schlichte Anwendung des Grundgesetzes (Art. 31 GG). Dem Landesgesetzgeber steht auf dem Gebiet der Wirtschaft keine Gesetzgebungskompetenz mehr zu, sodass der Landesgesetzgeber durch Landesgesetz die Anwendung des § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB nicht einschränken kann. Daher kommt es entgegen der Ansicht der Vergabekammer gerade nicht darauf an, ob in § 6 ThürRettG eine Privilegierung von gemeinnützigen Hilfsorganisationen geregelt ist oder nicht. Eine solche Privilegierung in einer Landesnorm würde die Anwendung des Bundesrechts nicht hindern.
Der Vergabesenat hat darüber hinaus klargestellt, dass im vorliegenden Fall die tatbestandlichen Voraussetzungen gegeben sind. Hierbei kommt es ausschließlich auf eine objektive Betrachtung an. Dies folgt daraus, dass es in § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB heißt, dass die Dienstleistungen von gemeinnützigen Organisationen oder Vereinigungen erbracht werden. Die Dienstleistungen werden, so der Vergabesenat des Thüringer Oberlandesgerichts, dann von gemeinnützigen Organisationen oder Vereinigungen erbracht, wenn der öffentliche Auftraggeber das Auswahlverfahren auf diese Organisationen oder Vereinigungen beschränkt und nur diese zur Angebotsabgabe aufgefordert hat. Bezugspunkt ist dabei das aktuelle Beschaffungsvorhaben, als der konkret zu vergebende Auftrag und nicht die Frage der aktuell laufenden Leistungserbringung aufgrund etwaiger Bestandsverträge.
Wenn der konkret zu vergebende Auftrag von gemeinnützigen Organisationen oder Vereinigungen erbracht werden soll, kann der öffentliche Auftraggeber dies dadurch erreichen, dass er sein Auswahlverfahren auf diesen Bieterkreis beschränk, obwohl auch gewerbliche Anbieter, die die Kriterien der Gemeinnützigkeit nicht erfüllen, auf dem relevanten Markt vorhanden sind. Die Bereichsausnahme kommt daher nach Auffassung des Vergabesenats bereits dann zur Anwendung, wenn ausschließlich gemeinnützige Organisationen oder Vereinigungen zur Angebotsabgabe aufgefordert und beauftragt wurden. Dabei kommt es nicht auf weitere subjektive Erfordernisse an, so der Vergabesenat. Es ist also nicht erforderlich, dass der Auftraggeber im Vorfeld sich dessen bewusst gewesen sein muss, weil sich ein solches Erfordernis sich der Norm nicht entnehmen lässt. Der Senat weist jedoch darauf hin, dass regelmäßig eine im Vorfeld getroffene bewusste Entscheidung dazu führt, dass man von der Bereichsausnahme Gebrauch machen wolle. Diese Entscheidung wird, so der Senat, auch im Hinblick auf einen rechtsstaatlichen ordnungsgemäßen Verwaltungsvollzug grundsätzlich auf einer Ermessensausübung des öffentlichen Auftraggebers beruhen. Diese Ermessensausübung ist jedoch nicht vom Vergaberecht und der Bereichsausnahme erfasst, sondern ist gerade dem Beginn des Vergabeverfahrens vorgelagert und damit nicht Gegenstand der Überprüfung des Nachprüfungsverfahrens.
Bedeutung der Bereichsausnahme für den Rettungsdienst
Nach § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB ist der vierte Teil des GWB (und damit das Kartellvergaberecht) nicht anzuwenden auf die Vergabe von öffentlichen Aufträgen und Konzessionen zu Dienstleistungen des Katastrophenschutzes, des Zivilschutzes und der Gefahrenabwehr, die von gemeinnützigen Organisationen oder Vereinigungen erbracht werden und die unter die Referenznummern bestimmter sog. Common Procurement Vocabulary fallen, mit Ausnahme des Einsatzes von Krankenwagen zur Patientenbeförderung.
Die Bereichsausnahme hat ihren Ursprung in den Vergaberichtlinien der Europäischen Union, die grundsätzlich keine unmittelbare Wirkung in den Mitgliedsstaaten entfaltet. Richtlinien der Europäischen Union sind durch den Gesetzgeber der Mitgliedsstaaten in mitgliedsstaatliches Recht umzusetzen, wie es in Deutschland in § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB erfolgte. Der Gesetzgeber hat dabei abweichend von der Richtlinie in § 107 Abs. 1 Nr. 4 2. HS GWB noch eine Ergänzung vorgenommen, die (wohl) Auslöser zahlreicher gerichtlicher Verfahren war. Der Gesetzgeber definierte dabei, was er unter gemeinnützigen Organisationen oder Vereinigungen verstehe und schrieb „gemeinnützige Organisationen oder Vereinigungen im Sinne dieser Nummer sind insbesondere die Hilfsorganisationen, die nach Bundes- oder Landesrecht als Zivil- und Katastrophenschutzorganisationen anerkannt sind.“ Der europäische Richtliniengeber sah eine Beschränkung auf durch mitgliedsstaatliches Recht anerkannte Zivil- und Katastrophenschutzorganisationen nicht vor. Der Europäische Gerichtshof entschied hierzu bereits, dass für die Frage, ob es sich bei dem Leistungserbringer um eine gemeinnützige Organisation oder Vereinigung handele, nicht auf die Anerkennung als Zivil- oder Katastrophenschutzorganisation ankomme, sondern dass ausschließlich entscheidend ist, ob die Organisation oder Vereinigung unter Berücksichtigung des mitgliedsstaatlichen Rechts gemeinnützig ist, sodass in Deutschland insbesondere auch die steuerrechtlichen Vorschriften zur Gemeinnützigkeit (§§ 52 ff. AO) zu berücksichtigen sind (vgl. EuGH, Urteil v. 21.3.2019 – C-465/17 - Falck Rettungsdienste GmbH).
Die herrschende Rechtsprechung – und nunmehr auch das Thüringer Oberlandesgericht – nahmen die Entscheidung des EuGH zum Anlass, um § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB im Hinblick auf den 2. Halbsatz insoweit richtlinienkonform auszulegen, als dass es für die Frage der Gemeinnützigkeit eines Leistungserbringers nicht darauf ankommt, ob dieser nach Landes- oder Bundesrecht als gemeinnützige Zivil- oder Katastrophenschutzorganisation anerkannt ist, sondern ausschließlich darauf, ob der Leistungserbringer die Kriterien einer gemeinnützigen Tätigkeit nach §§ 52 ff. AO erfüllt.
Die Bereichsausnahme nach § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB soll dem Umstand Rechnung tragen, dass das Vergaberecht nicht für gemeinnützige Organisationen oder Vereinigungen gelten soll, weil der spezielle Charakter dieser Organisationen nur schwer gewahrt werden könnte, wenn die Dienstleistungserbringer nach den durch das Vergaberecht festgelegten Verfahren ausgewählt werden müssten und sich damit in einem wettbewerblichen Umfeld mit privatwirtschaftlichen Unternehmen behaupten müssten. Gemeinnützigen Organisationen oder Vereinigungen, die regelmäßig bereits innerhalb des Gebiets der kommunalen Gebietskörperschaft des Aufgabenträgers umfangreich im Katastrophenschutz ehrenamtlich mitwirken, sollen daher in den meisten Fällen auch im Rettungsdienst Berücksichtigung finden können. Sie sind aufgrund ihrer Tätigkeit, die darauf gerichtet ist, der Allgemeinheit insbesondere in Notlagen und Fällen der akuten Bedürftigkeit zu helfen, ein wesentlicher Teil der Zivil- und Katastrophenschutzhilfe.
Die Entscheidung des Thüringer Oberlandesgerichts führt damit zu erheblicher Rechtssicherheit für die Aufgabenträger des öffentlichen bodengebundenen Rettungsdienstes, die künftig bei der Entscheidung, an wen rettungsdienstliche Leistungen vergeben werden sollen, unter Anwendung der Bereichsausnahme auch ausschließlich gemeinnützige Organisationen oder Vereinigungen in Thüringen berücksichtigen können. Die Anwendung der Bereichsausnahme führt jedoch nicht dazu, dass die gemeinnützigen Organisationen oder Vereinigungen unmittelbar durch den Aufgabenträger beauftragt werden können. Der Aufgabenträger ist dennoch verpflichtet, vor der Beauftragung ein transparentes Auswahlverfahren unter Anwendung nicht diskriminierender Auswahlkriterien durchzuführen. Das Verfahren kann jedoch deutlich flexibler gestaltet werden, weil es an die starren Vorgaben des Vergaberechts nicht gebunden ist.
Ausblick – Ende gut alles gut?
Das Thüringer Oberlandesgericht hatte aufgrund der folgerichtigen Entscheidung, dass die Vergabekammer nicht zur Entscheidung, über die von dem bundesweit tätigen Unternehmen erhobenen Vorwürfe zu Verstößen gegen vergaberechtliche Vorschriften berufen war, weil der Rechtsweg nicht eröffnet gewesen ist, nicht über wesentliche materiell-rechtliche Fragen zu entscheiden. Insbesondere die Frage, ob der Aufgabenträger als öffentlicher Auftraggeber verpflichtet ist, Bestandsverträge zu kündigen, blieb unbeantwortet.
Auch wenn das Thüringer Oberlandesgericht diese konkrete Frage nicht zu entscheiden hatte, ist der herrschenden Rechtsprechung der Vergabesenate der Oberlandesgerichte und herrschenden Auffassung in der Literatur zu entnehmen (und zuzustimmen), dass Antragsteller in vergaberechtlichen Nachprüfungsverfahren nicht verlangen können, dass der Aufgabenträger Bestandsverträge zu kündigen hat. Aus der hierfür maßgeblichen Norm des § 133 GWB ist schon systematisch herzuleiten, dass es sich hierbei um eine Norm handelt, die erst zur Anwendung gelangen kann, wenn ein öffentlicher Auftrag erteilt wurde. Der zeitliche Anwendungsbereich liegt damit bereits nach einem möglichen Vergabenachprüfungsverfahren, sodass auch die Vergabekammern, die kraft Gesetzes nur auf Antrag des Antragstellers prüfen, ob dieser in seinen Rechten aufgrund des konkreten Vergabeverfahrens verletzt ist (§ 168 Abs. 1 GWB), nicht dazu befugt sind, über Maßnahmen zu entscheiden, die nach einem wirksam erteilten Zuschlag liegen, der übrigens durch die Vergabekammern nicht aufgehoben werden kann (§ 168 Abs. 2 GWB).
§ 133 GWB vermittelt danach dem Antragsteller in einem Nachprüfungsverfahrens nicht die dafür erforderliche Antragsbefugnis (§ 160 GWB), sodass ein entsprechender Antrag mangels subjektiver Rechtsverletzung im Vergabe- und Nachprüfungsverfahren unzulässig wäre.
Ungeachtet dessen hat das Thüringer Oberlandesgericht festgestellt, dass es sich bei der streitgegenständlichen Beauftragung um eine von den übrigen Bestandsverträgen verschiedene und unabhängige Maßnahme handelte. Dies schließt damit eine von § 133 Abs. 1 Nr. 1 GWB notwendige Auftragsänderung im Sinne von § 132 GWB aus, sodass auch der Anwendungsbereich von § 133 GWB im vorliegenden Fall bereits nicht eröffnet gewesen ist.
Es bleibt daher nun abzuwarten, wie das zuständige Verwaltungsgericht Gera über den Antrag des bundesweit tätigen Unternehmens entscheiden wird.
Durch die ausdrückliche Klarstellung des Thüringer Oberlandesgerichts in Jena, dass die Bereichsausnahme in Thüringen anwendbar ist, haben die Aufgabenträger nun aber die Möglichkeit, durch die ausschließliche Berücksichtigung gemeinnütziger Organisationen oder Vereinigungen auch über § 6 Abs. 1 ThürRettG eine sinnvolle Verknüpfung von Rettungsdienst und Katastrophenschutz herzustellen, damit das Ehrenamt weiter zu fördern und einen sinnvollen Mehrwert für den Zivil- und Katastrophenschutz zu schaffen. Die damit möglichen Anreize für eine Betätigung in der kommunalen Gemeinschaft sollten nicht ungenutzt bleiben, um auch den Sinn und Zweck des Brand- und Katastrophenschutzes, nämlich die Selbsthilfe der Bevölkerung zu fördern, zu stärken.
Über uns
Die Rechtsanwälte Schlegel, Fischer & Partner sind eine mittelständische überregionale Anwaltskanzlei aus Ostthüringen mit Standorten in Greiz, Schleiz und Jena. Wir beraten sowohl Unternehmen als auch Privatpersonen in allen Rechtsangelegenheiten.
Rechtsanwalt Lucas Prandi, der bereits umfangreiche Erfahrungen als Syndikusrechtsanwalt und Leiter der Stabsstelle Recht für ein Startup auf dem Gebiet der Digitalisierung der Gesundheits- und Pflegebranche sammeln konnte, berät sowohl Unternehmen als auch öffentliche Auftraggeber auf den Gebieten des Vergabe- und Verwaltungsrechts sowie den Gebieten des IT- und Datenschutzrechts. Rechtsanwalt Prandi hat bereits den Fachanwaltslehrgang für Vergaberecht erfolgreich abgeschlossen und absolviert derzeit den theoretischen Teil des Fachanwaltslehrgangs für Informationstechnologierecht. Er wirkte unter anderem in seiner Stellung als Syndikusrechtsanwalt bis Ende 2023 an den Entscheidungen der Vergabekammer Baden-Württemberg (Beschluss v. 13.07.2022 – 1 VK 23/22) und des Oberlandesgerichts Karlsruhe (Beschluss v. 07.09.2022 – 15 Verg 8/22) zu datenschutzrechtlichen Fragestellungen in Vergabeverfahren bei der Auswahl von Bietern mit, die die Umsetzung datenschutzrechtlicher Anforderungen der angebotenen Produkte und Dienstleistern versprechen.
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